schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland

Inzwischen kennt man mehrere Ansätze, um eine Auslieferung an Polen zu verhindern, wobei die polnische Justizreform tatsächlich auch Besorgnis erregende Zustände der polnischen Justiz befürchten lässt. Für die in Deutschland lebenden Polen, die hier wegen ihrer Jugendsünden mit Europäischen Haftbefehlen aus Polen gesucht werden, gibt es auf jeden Fall in Deutschland die besseren Sozialisierungschancen.

Basis des Auslieferungsverfahrens beim OLG Köln war ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts in Koszalin / Polen. Der Verfolgte wurde europaweit gesucht, weil gegen ihn in Polen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten vollstreckt werden sollte.

Der Verfolgte lebt seit Jahren in Deutschland und hat für sich und seine Familie hier eine solide Existenz aufgebaut.  Das hatten wir der Generalstaatsanwaltschaft - rein vorsorglich - schon Ende 2017 nachgewiesen, noch bevor hier überhauptvon einem Haftbefehl aus Polen die Rede war.

keine Auslieferung an Polen

Als der Haftbefehl dann im November 2018 bei der Generalstaatsanwaltschaft Köln einging, wollte die Generalstaatsanwaltschaft den Verfolgten zunächst  trotzdem zur Resozialisierung nach Polen schicken, denn ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse an einer Strafvollstreckung in Deutschland sei gegenüber dem Interesse der polnischen Behörden an seiner Überstellung zu Strafvollstreckung nicht festzustellen. 

auf das schutzwürdige Interesse an der Strafvollstreckung im Inland kommt es an

Nach massiver Gegenwehr hat sich die Generalstaatsanwaltschaft am Ende doch durchgerungen, ein Bewilligungshindernis gemäß  83b Abs. 2 Nr 2 IRG geltend zu machen. Nach dem Gesetzt kann nämlich die Bewilligung der Auslieferung eines Ausländers, der im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dann abgelehnt werden, wenn 1. bei einer Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung die Auslieferung eines Deutschen gemäß nicht zulässig wäre, und 2. bei einer Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung er dieser nach Belehrung zu richterlichem Protokoll nicht zustimmt und sein schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland überwiegt.

Weiterer Erfolg beim OLG Hamm

Inzwischen hatten wir in einem weiteren Fall beim OLG Hamm Erfolg, das am 14.11.2019 einen Auslieferungshaftbefehl aufgehoben und die Auslieferung an Polen für unzulässig erklärt hat. Schon im Oktober 2019 hat auch das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 01.10.2019 - Ausl 301 AR 27/19) die Auslieferung einer polnischen Staatsangehörigen aus Deutschland nach Polen zur Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls für derzeit unzulässig erklärt und den vorher erlassenen Auslieferungshaftbefehl aufgehoben, zumal eine Auslieferung der Verfolgten die längerfristige Trennung von ihrer acht Monate alten, behandlungsbedürftigen Tochter bedeuten würde.

Bei der Prüfung des Vorliegens eines „Überwiegens des schutzwürdigen Interesses“ i.S.d. § 83 b Abs. 2 Satz 1 lit. b IRG sind vor allem folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Maßgeblich ist vor allem, ob durch die Vollstreckung der Strafe im Inland die Resozialisierungschancen des Verfolgten merklich erhöht werden können. Der deutsche Strafvollzug muss also der Aufgabe, den Verurteilten zu einem künftigen Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen, besser gerecht werden als die Strafvollstreckung im ersuchenden Staat. Der Verfolgte muss aufzeigen können, dass seine beruflichen, wirtschaftlichen, familiären und sozialen Beziehungen in Deutschland tragfähig sind. Ehe und Familie stehen nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz des deutschen Grundgesetzes. Eine entscheidende Rolle spielt auch der Zeitraum des Aufenthalts in Deutschland. Hält sich jemand bereits länger als fünf Jahre ununterbrochen in Deutschland auf, so kann schon allein das ausreichen, um auf eine ausreichende Integration zu schließen. Indizien für den Willen zur Integration von erheblichen Gewicht sind die Beherrschung der deutschen Sprache und eine länger andauernde Berufstätigkeit.

Angesichts der polnischen Justizreform kann es erforderlich sein ...

Nach der Justizreform in Polen ist viel über die Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze und die möglichen Auswirkungen auf deutsch-polnische Auslieferungsverfahren gesprochen worden. Als Fazit kann man bisher festhalten, dass die Feststellung der allgemein fehlenden richterlichen Unabhängigkeit in Polen nur in den seltenen Fällen zur Unzulässigkeit einer Auslieferung führen kann, in denen sich die rechtstaatlichen Mängel auch auf das konkrete Verfahren auswirken können. Das kann tendenziell eher bei der Strafverfolgung in Betracht kommen als im Bereich der Strafvollstreckung.

Die Europäische Kommission (KOM) hat gegen Polen 2017 zwei Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, nämlich 1. betreffend die neue Pensionsregelung, die dem Minister für Justiz das Recht einräumt, über die Verlängerung der Dienstzeiten zu entscheiden, was mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit von Richtern nicht vereinbar ist. Das Vertragsverletzungsverfahren betrifft 2. die in Polen neu eingeführten Disziplinarregelungen.

EuGH zur Auslieferung nach Polen

Aber der EuGH hat am 25.7.2018 entschieden, dass allein die Einleitung eines solchen Vertragsverletzungsverfahrens nicht zur Versagung der Auslieferung führt, dass aber bei einer Verletzung des Grundrechts der betroffenen Person auf ein unabhängiges Gericht und ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 der Charta die Versagung einer Auslieferung gerechtfertigt sein kann. Dafür muss aber eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren festzustellen sein, bevor in einem zweiten Schritt zu prüfen ist, dass auch und gerade die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein würde.

OLG Karlsruhe zur Auslieferung nach Polen

Mehrere Oberlandesgerichte haben bereits geprüft, ob angesichts der polnischen Justizreform überhaupt noch eine Auslieferung an Polen in Betracht kommt. Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat in einem Beschluss vom 07.01.2019 (Ausl 301 AR 95/18) die Auslieferung eines Verfolgten nach Polen zur Strafverfolgung nur noch unter der Bedingung für zulässig erklärt, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Bewilligung der Auslieferung mit der Maßgabe versieht, dass der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Polen bzw. eine von ihm oder einem Vertreter beauftragte Person berechtigt ist, an der gegen den Verfolgten durchgeführten Hauptverhandlung teilzunehmen und den Verfolgten im Falle eines Schuldspruchs in der Haft zu besuchen. In dem Fall hatte der Verfolgte geltend gemacht, die Auslieferung sei unzulässig, weil nach der Justizreform in Polen die dortige Justiz nicht mehr unabhängig sei und er im Falle seiner Auslieferung kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten habe. Das OLG Karlsruhe teilt die Ansicht des EuGH in seinem Urteil vom 25.07.2018 (C- 216/18), dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehört und dass Gerichte bzw. die im Spruchköper tätigen Richter unabhängig sein müssen und insoweit einen wirksamen und von politischer oder dritter Seite nicht beeinflussbaren gerichtlichen Rechtsschutz gewähren können müssen und sieht mit Besorgnis die Entwicklung in Polen und versucht dem mit der Anordnung der Prozessbeobachtung Rechnung zu tragen.

Rechtsanwalt zu Auslieferung vs. Resozialisierung

Im Bereich des Europäischen Haftbefehls besteht grundsätzlich eine Pflicht zur Bewilligung der Auslieferung an einen EU-Mitgliedsstaat, wenn die Auslieferung nach rechtlichen Maßstäben zulässig ist und kein Bewilligungshindernis vorliegt (§ 83 b IRG). Bewilligungshindernisse können besonders bei Ausländern bestehen, die längerfristig mit Aufenthaltsberechtigung in Deutschland leben (im Regelfall >5 Jahre) und deshalb über einen „gewöhnlichen Aufenthalt“ in Deutschland verfügen (§ 83 b Abs. 2 IRG).

Die Geltendmachung eines solchen Bewilligungshindernisses nach § 83 b Abs. 2 IRG steht aber in Fällen der Strafverfolgung durch den ersuchenden Staat im Ermessen der deutschen Staatsanwaltschaft und sie hängt im Bereich der Strafvollstreckung davon ab, ob überwiegende schutzwürdige Belange des Verfolgten die Vollstreckung im Inland gebieten, insbesondere ob hier die besseren Resozialisierungschancen bestehen.

Rechtsanwalt zum Dauerthema Abwesenheitsurteil aus Polen

Das OLG Bremen ( Beschl. v. 18.06.2020 – 1 Ausl 56/12) hat die Auslieferung eines Verfolgten an die Republik Polen zum Zweck der Strafvollstreckung für unzulässig erklärt. Der Verfolgte war in Polen in Abwesenheit verurteilt worden. Ob das wirklich ein Abwesenheitsurteil war, war im Verfahren einen Moment lang zweifelhaft. Aber das OLG kam zu dem Schluss, dass ein Abwesenheitsurteil im Sinne des § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG auch dann vorliegt, wenn der Verfolgte nicht zu der Sitzung erscheint, die das Gericht nach einer Verfahrensabsprache zwischen Staatsanwaltschaft und Verfolgtem gemäß Art. 335 der polnischen Strafprozessordnung anberaumt hat, und dann ein Urteil entsprechend der Absprache ergeht. In dem Fall war auch der Versuch der tatsächlichen Zustellung der persönlichen Ladung des Verfolgten zu dem Termin der Sitzung des Gerichts erfolglos geblieben. Das OLG Bremen ( Beschl. v. 18.06.2020 – 1 Ausl 56/12) stellt sich damit gegen das OLG Celle „Beschl. vom 18.12.2012 – 1 Ausl 56/12) und das Berliner Kammergericht (Beschl. vom 14.11.2017 – (4) 151 AuslA 140/17 (200/17). 

Im Zusammenhang mi dem Abwesenheitsurteil hat sich das OLG Bremen ( Beschl. v. 18.06.2020 – 1 Ausl 56/12) auch mit der Thematik „Fluchtfall“ im Sinne des § 83 Abs. 2 Nr. 2 IRG befasst und verlangt hier genauso wie das Berliner Kammergericht in einem Beschluss aus 2017 und das OLG Karlsruhe in einem weiteren Beschluss aus 2017, dass der Verteidiger nicht nur zu irgendeinem Zeitpunkt in dem ausländischen Strafverfahren mitgewirkt hat, sondern dass der Verteidiger insbesondere auch an der zu dem Urteil führenden Verhandlung teilgenommen hat.

Die polnischen Justizbehörden hatten hier mit Europäischem Haftbefehl um die Festnahme und Übergabe des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten aus dem rechtskräftigen Urteil ersucht. Das in dem Abwesenheitsurteil liegende Auslieferungshindernis stand in dem vorliegenden Fall aber der begehrten Festnahme und Übergabe des Verfolgten eindeutig entgegen.

 

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